Welterklärungen

Arbeit, Staat und Freiheit. Kleine Systematik. (Zweiter Teil, Draft.)

F O R T S E T Z U N G: S T A A T,  F U N K T I O N A L I S M U S   &   T E L O S

(41) Zweiter Gesang, erste Strophe.

(41a) Gesang ist die natürliche Form, das dicht Gedrängte dem Redundanten zu verbinden. Redundanz ist nicht nur die Mutter des Lernens und der Langeweile; sie macht auch die Welt überhaupt erst erkennbar und die Gesellschaft durchführbar. Redundanz liegt jedem System zugrunde, auch dem der Sprache; andernfalls zerfiele sie in einzelne Wörter, die keine Möglichkeit wechselseitiger Bezugnahme hätten. Redundant im Sinne einer bloßen Entfaltung des oben Gesagten ist auch alles hiernach Folgende.

(42) Ebenfalls redundant ist die Staatenbildung. Der Staat wurde von der Natur schon mehrfach erprobt, bevor die Menschen ihn neu erfanden. Meta-Arbeit ist etwas, das uns in der Natur auf mehreren Stufen begegnet.

(42) Wenn nicht den ersten, so zumindest den bedeutsamsten Staatsversuch unternahm die Natur beim Übergang vom Einzeller zum Vielzeller.

(43) Dieser Übergang ist mehrmals erfolgt; es gab ihn bei den Pflanzen, bei den Tieren und bei den rätselhaften Wesen dazwischen. Auch die Bakterien vollzogen ihn. Allerdings scheint bei den Zellkernlosen die erste Form innerartlicher Vergesellschaftung nie über ein primitives Stadium, den häßlich so getauften „Biofilm“, hinaus geführt zu haben. Wir wollen die Einzelheiten dieses Übergangs, gleichwohl er die womöglich spannendsten Fragen der Lebenswissenschaften berührt, nicht untersuchen. Wir konzentrieren uns allein auf das erste Auftreten des Staates.

(44) Am Anfang war der Zusammenschluß der bis dato autonomen Zellen fakultativ. Jedes Individuum war in der Lage alle Lebenstätigkeiten allein durchzuführen. Langsam, und aus Gründen, die wir unerörtet lassen, bildete sich die Fähigkeit heraus, im Verbund spezialisierte Tätigkeiten zu übernehmen. Dieses Vermögen wurde nur betätigt, wenn eine kritische Menge einzelner Individuen auf hinreichend engem Raum zusammentrat. Dann konnte ein Individuum im Prinzip jede Verbund-Aufgabe übernehmen. Deren Spezifikation ergab sich oft nur aus der zufälligen Lage und Einbindung in die Gemeinschaft. Die Dissoziation dieses Verbundes in die Einzelwesen, aus denen er besteht, stellte deren ursprüngliche Universalität wieder her. Die innerartliche wechselseitige Abhängigkeit von der Tätigkeit anderer Individuen war, ersehen wir, am Angang noch reversibel; Gesellschaft mithin nur ein Entwurf, eine Möglichkeit. Selbstrealisation einer Art konnte innerhalb oder ausserhalb der Gesellschaft statt haben. Faszinierende Schizophrenie!

(45) Man erkennt mühelos wieder, was wir unter Arbeit verstehen, d.i. innerartliche Symbiose. Zu den Spezialfunktionen, welche Individuen im Verbund übernehmen können, gehören die Herstellung eines Innen und Aussen, d.i. Inidviduen am Rand des Verbundes verrichten andere Arbeit, als solche im Innern. Sie stellen beispielsweise Schleim, Haftstoffe und Gifte her, um den Verbund nach aussen zu schützen. Gleichzeitig erhöhen sich im Innern des  Verbundes die Möglichkeiten, Gene auszutauschen und also in der Evolution zu bestehen.

(45a) Mit anderen Worten, der innerartliche Zusammenschluß von Individuen schuf zwei Freiheiten: Erstens, die von der Notwendigkeit, alle lebenserhaltenen Tätigkeiten autonom ausführen zu müssen. Und zweitens, die Freiheit gesteigerter Unabhängigkeit von der äusseren Natur, selbstredend um den Preis gesteigerter Abhängigkeit von seinesgleichen.

(46i) Soweit zur Herausbildung der ersten ökonomischen Nischen. Voraussetzung war die Möglichkeit der Individuen, Handel zu treiben.

(46a) Nebenrangige Gedankenflucht: Wie sehr ist die Doppelbedeutung des Verbums „handeln“ ein etymologischer Zufall? Einesteils meint es ja den Austausch Dingen; andererseits meint es das Gegenteil von verharren, meint jedwedes Tätigsein überhaupt. Welche der beiden Bedeutungen war die ursprüngliche? Weshalb gibt es keine eigenen Vokabeln für beides?

(46ii) Gehandelt wurde zunächst in Naturalien, die sowohl nach Quantität als auch Qualität ganz arbiträr ausgetauscht wurden. Einweisse gegen Zucker, Hormone gegen Toxine. Der Unterschied zum herkömmlichen Stoffwechsel: Anstatt körperfremde Stoffe aus der Natur zu beziehen, stammen sie von Artgenossen her. Auch Tätigkeit und Verhalten ist handelbar. Beschleunigte Anpassung und Erbgutverbesserung zum Beispiel gegen Aufopferung und Harakiri.

(47) Handel ist innerartlicher Stoffwechsel.

(48) Wenn Arbeit Aufteilung des Stoffwechsels unter den Individuen bedeutet, ist Handel ihr innerer Mechanismus. Die Möglichkeit zum Handel bedingt die Möglichkeit zur Arbeit. Es folgt unmittelbar, dass der Handel selbst, wiewohl zunächst Voraussetzung für das Entstehen von Arbeit,  zur Arbeit sich befestigen kann.

(49) Der Übergang vom Ein- zum Vielzeller war, wie wir sehen, die Entstehung der Arbeit überhaupt. Ist mit ihr auch der Staat entstanden? Fast.

(50) Der Staat, war gesagt, ist Meta-Arbeit; er ist jene ökonomische Nische, deren Hauptnutzen die Gewährleistung des Fortbestands aller anderen ökonomischen Nischen ist. Sein Maß ist die jeweils statt habende Ordnung. Ordnung meint das Netzwerk aller ökonomischen Nischen. Der Staat bekämpft jede Störung dieser Ordnung. Sie ist der Normalzustand, nach dessen Erhalt er strebt.

(51) Nichts ist so verletzlich, wie die Ordnung.

(52) Daraus folgt, daß der Staat als Ausdruck einer neuen individuellen Freiheit ins Leben trat: Der Freiheit nämlich, die bestehende Ordnung z u   v e r l e t z e n. Nur wenn sich die mögliche Struktur der ökonomischen Nischen – d.i. ihre Sorten, ihre Anzahl und die Art und Weise, mit der sie in Bezug zueinander stehen – nur wenn sich diese Ordnung ändern läßt, ohne, daß der Zusammenschluß der Individuen gleich ganz zerfällt, kann der Staat sich bilden. Dann macht er sich nötig.

(52a) Die Möglichkeit der Änderung ökonomischer Nischen ist eine neuartige Freiheit, die weder das vollkommen autonome Individuum kennen kann, noch die Zahnräder einer Maschine, deren Funktion auf alle Zeit festgelegt ist. Staat entsteht als Vermittlung von Individuum und Maschine.

(52b) Die Möglichkeit der Änderung geht einher mit der Notwendigkeit zur Befestigung. Der Staat ist als Ausdruck von Freiheit entstanden. Ein idealer Staat vermittelt den Widerspruch zwischen Veränderung und Beharren; zwischen Bewegung und Stillstand.

(53) Die ersten Staaten, mithin, waren Vorläufer dessen, was wir heute Immunsystem nennen. Es ist die Funktion des Immunsystems, die bestehende Ordnung des Organismus zu stabilisieren. Äussere Störungen werden ebenso bekämpft, wie innere Abweichungen; Krebszellen ebenso wie Bakterien.

(53a) Das Immunsystem ist, in Zeiträumen der Evolution betrachtet, nicht starr. Es wandelt sich. Es gilt eher als anpassungsfähiger Teil von Organismen und Arten. Dennoch ist es zu jedem konkreten Zeitpunkt in seinen Grundausprägungen festgelegt.

(53b) Die vom Menschenstaat bekannte Dreiteilung in Legislative, Judikative und Exektutive ist im Immunsystem bereits angelegt, ihre Trennung aber nur im Ansatz vollzogen. Die Legislative liegt als Art der Erkennungsmechanismen vor, mit denen das Immunsystem „normal“ von „abnorm“ unterscheidet; die Judikative beinhaltet die Signalketten, mittels welcher die erkannte Abweichung von der Normalität weitergeleitet und in eine Aktion verwandelt wird und die Exekutive beinhalten all jene Aktionen/Akteure, mit denen der Organismus anschliessend versucht, die Normalität wieder herzustellen.

(54) Es ist augenfällig, daß der Staat nicht zwangsläufig mit Privilegien einher geht. Die Vorstellung vom Staat als Hierarchie, als Ordnung von Herrschern und Beherrschten, ist dürftig und beschränkt. Sie ignoriert, daß der Staat selbst eine ökonomische Nische ist. Sie vergißt, daß er Arbeit ist.

(55) Wollte man über den Staat als Immunsystem m o r a l i s c h   urteilen, so fiele zu seinen Gunsten in die Waagschale, daß er sich selbst mit eben der selben Strenge überwacht, wie alle anderen ökonomischen Nischen; wild gewordene Immunzellen werden ebenso vor sein Tribunal gezerrt, wie wild gewordene somatische Zellen. Gegen ihn spräche nach heutigen, mitteleuropäischen Maßstäben seine übermäßige Erbarmungslosigkeit und seine unterentwickelte Fähigkeit zur Abstufung. Seine Gerechtigkeit ist so absolut, dass sie uns ungerecht vorkommt. Weil es keine Nuance gibt, kann es keine Verhältnismässigkeit geben. Der erste Staat kennt nur Verbannung und Todesstrafe. Die Mitarbeiter der Exekutive arbeiten in der Manier japanischer Kamikaze-Flieger oder arabischer Selbstmordattentäter. Das Wort „exekutieren“ hatte noch nicht die Bedeutungsvielfalt des heutigen „ausführen“ erlangt. Es waren so gestrenge wie überaus ehrliche Zeiten.

(56) Diese Ausführungen sind k e i n e  Analogiebetrachtungen! Sie zeigen eine historische Linie auf. Sie beschreiben die naturhistorische E n t w i c k l u n g  bestimmter Konzepte, in die sich die Gesellschaftsphänomene „Arbeit“, „Staat“ und „Freiheit“ ordnen lassen. In (61) gebe ich einen Beweis.

(57) Ich stelle mich also, und bewusst, in die Reihe der Naturphilosophen. Es gibt, dies angelegentlich bemerkt, nur drei Arten von Philosophen: Offenbarungsphilosophen, Künstlerphilosophen und Naturphilosophen. Offenbarungsphilosophen lehren aufgrund ihrer Teilhabe an einer unmittelbar gegebenen Wahrheit. Künstlerphilosophen lehren, was sie ihren Gemütsregungen an universeller Gültigkeit beimessen. Naturphilosophen lehren ein Jegliches als ein Gewordenes. Jeder ausgereifte Philosoph faltet diese Dreiheit in sich ein; jeder trägt sich auf eine ihm gemäße Weise in dieses dreiachsige Koordninatensystem ein.

Funktionalismus

(58) Ich denke den Staat funktionalistisch, d.i. von den Tätigkeiten her. Zwecke und Methoden aus unserer Vorrede, da sind sie wieder. Sie setze ich an die Stelle des Wesens eines Staates.

(59) Das Gegenstück ist der idealistische Staat. Der Staat Hobbes, der Staat Fichtes, der Staat Hegels. Und, wiewohl ihmselbst es anders vorkam, der Staat Marxens. Der idealistische Staat ist immer vom Individuum her gedacht. Er ist die natürliche, primordiale Staatsphilosophie. Jeder Mensch geht zuerst von sich aus.

(60) Funktionalismus ist eine Erklärungspraxis und eine Bedeutungstheorie. Sie bestimmt die Dinge durch Angabe von Zwecken, denen sie dienen. Dadurch, dass Dinge eine Funktion ausüben, realisieren sie sich selbst.

(61) Radikaler Funktionalismus heisst: Kein Ding ohne Funktion; keine Funktion ohne Dinge. Wir sind verleitet, dieser Philosophie umstandslos Glauben zu schenken. Sie leuchtet unmittelbar ein. Die Gefahr ist groß, sie ins ontologische aufzublasen: Ein Ding, hiesse das, existiert qua seiner Funktion; Dinge ohne Funktion existierten nicht. Man begibt sich in äusserst schwierige Denkgefilde. Wir machen an diese Schwelle Halt. Um den Funktionalismus zu begründen, würden wir nicht weniger als eine ganze Philosophie des Lebens benötigen. Wir können das hier nur begründen; ausführen müssen wir diese Philosophie an anderem Ort, zu anderer Zeit.

(61a) Bis heute ist der Funktionalismus die vorherrschende Erklärungspraxis in der Biologie. Ein Organ oder ein Gewebe wird stets durch Angabe seiner Funktion spezifiziert. Kein Merkmal, kein Verhalten, das nicht erst im Lichte seines evolutionären Zweckes seinen Sinn, ja, sein Vorhandensein überhaupt erwiese. Das zieht sich kurioserweise bis auf die molekulare Ebene der Eiweisse. Kurios, weil wir Moleküle als geradezu archetypisch für das besinnungslose vor-sich-hin-Webern der Natur ansehen (Morgenstern: „Laß die Moleküle rasen!“). Es hängt eben alles vom Zusammenhang ab. Eiweisse, Nukleinsäuren, zelluläre Mikrostrukturen: All das scheint nur begreiflich, wenn wir den Dingen Funktionen und Zwecke innerhalb des organismischen Geschehens, innerhalb des großen Ganzen letztlich, das Hegel zufolge die Wahrheit ist, zuweisen.

(61b) Das ist kategorial verschieden von den Erklärungspraxen in anderen Naturwissenschaften. Ein geworfener Stein mag eine Parabelform beschreiben, aber er tut es ohne Zweck. Elemente mögen sich zu chemischen Substanzen verbinden, aber sie erfüllen, indem sie es tun, keine Funktion innerhalb des Weltenganzen. Was die Welt im Innersten zusammen hält, ist Gegenstand von Entdeckungen; nicht von Erklärungen und tieferem Sinn. Die Welt ist wie sie ist, weil sie so ist. Der naturwissenschaftlichen Welt, mit Ausnahme der Biologie, ist das Telos ausgetrieben worden.

(61c) Warum nicht der?

(61d) Man hat es versucht. Die Biologie ist ja tatsächlich weniger teleologisch, als sie einst war. Die Idee, jede Lebensäusserung als Streben nach einem antizipierten End- oder Idealzustand zu verstehen, wird nur noch selten vertreten. Was indes nicht gelang, ist die Tilgung des Zweckes aus den Lebensprozessen. Es kann, meine ich, nicht gelingen, so lange wir einen Unterschied zwischen belebter und unbelebter Materie machen wollen.

(61e) Die Entstehung des Lebens ist die Entstehung des Zweckes.

(61f) Leben ist eine basale kategoriale Bestimmung. Die Frage, was es sei, muss so unbeantwortet bleiben, wie die nach jeder anderen basalen kategorialen Bestimmung. Es gibt jedoch veritable Annäherungen und Explikationen von Aristoteles bis Erwin Schrödinger. Hier ist kein Raum für deren Erörterung. Raum ist allein für die genaue Angabe des katogerial Neuen, welches das Leben den Kategorien des Unbelebten hinzufügt: Es ist der Zweck, es ist die Funktion.

(61g) Ich verwende die Vokabeln „Zweck“ und „Funktion“ weitgehend synonym. Wenn ich einen Unterschied mache, dann den, dass Funktion realisierten Zweck meint, während Zweck potentielle Funktion bedeutet.

(61h) Es spielt keine Rolle, ob Zweck oder Funktion „tatsächlich“ existieren. Kant hat viel darüber nachgedacht. Ich behaupte, der Zweck existiert genauso gut wie jedes andere Ursache/Wirkungs-Verhältnis, dessen „tatsächliches“ Vorhandensein, wie seit Hume bekannt, genauso wenig bewiesen werden kann. Funktion ist, mit anderen Worten, ein spezifisch biologisches Ursache/Wirkungs-Verhältnis.

(61h) Zweck und Funktion spielen folglich in jeder Theorie, die mit Lebendigem sich befasst, eine entscheidende begründende Rolle.

(62) Da nun wollten wir hin. Zum Staat als Lebensäusserung und also als Funktion. Nun ist die Behauptung aus (56), ich gäbe eine naturhistorische Entstehung des Staats-Konzeptes, gerechtfertigt. q.e.d

Herrschaft, Recht & Freiheit

(63) Die funktionalistische Beschreibung des Staates benötigt, wie wir sehen, keines Konzeptes von Herrschaft oder Recht oder Freiheit als erste oder basale Prinzipien. Im Unterschied zu idealistischen Staatsauffassungen  erscheinen diese Gegenstände als nachgeordnet, als sich ableitend. Ich empfinde das als einen großartigen Vorteil, den der Funktionalismus vor dem Idealismus hat. Weil er den Gebrauch dieser emotional stark belegten und übermäßig politisierten Begriffe einschränkt, ist er klarer.

(64) Im Funktionalismus bestimmt sich die Beziehung zwischen Staat und Freiheit/Herrschaft/Recht nicht als stark kausal. Die Beziehung ist eine zwischen einander bedingenden, wechselseitig sich eröffnenden Möglichkeiten.

(65) Herrschaft erscheint als Möglichkeit, eine bestimmte Ordnung herzustellen, bzw. zu erhalten. Macht ohne Herrschaft, zeigt uns das Beispiel des Immunsystems, ist jedoch prinzipiell möglich. Ob sie erstrebenswert oder durchführbar ist, steht dahin.

(66) Recht erscheint als Kodifizierung bestehender Verhältnisse, aka, einer bestehenden Ordnung. Es ist Ausdruck, nicht Ziel des Staates.

(67) Kommen wir zur Freiheit. Vorangehend habe ich, und nicht ohne Hintersinn, mehrfach von Freiheit als Bestehen von Möglichkeiten gesprochen. In (28b) als Möglichkeit zur Wahl der Betätigung. In (37a) als Möglichkeit zu verschiedenen Ordnungen der Gesellschaft. In (52) als Möglichkeit, die bestehende Ordnung zu verletzen. Kurz; Freiheit als allgemeine Möglichkeiten menschlicher und also gesellschaftlicher Bewegung. Darauf wollen wir sehen.

(68) Derart begriffen, springt dem Naturwissenschaftler sofort die Verwandtschaft zwischen Freiheit und Entropie ins Auge. Entropie bezeichnet in der statistischen Mechanik die Anzahl der Möglichkeiten, mit der ein bestimmter makroskopischer Zustand realisiert werden kann (hier: „Stand der Produktivkräfte“, Sorten ökonomischer Nischen, letzlich: eine bestimmte Ordnung).

(68a) Philosophischer gesprochen haben Freiheit und Entropie das miteinander gemein, das woher und wohin von Richtungen zu behandeln.

(68b) Die Frage ist so alt wie unbeantwortet, weshalb das Universum, anstatt den Wärmetod zu sterben und zu einer einheitlichen Suppe sich zu vermengen, ganz im Gegenteil, immer komplexere Formen hervor bringt? – die Sterne zum Beispiel, das Leben, den Menschen. Die Antwort lautet: Beiden auseinanderstrebenden Richtungen, Wärmetod und Leben, Komplexitäts-Abnahme und -Steigerung, liegt das selbe Prinzip zugrunde. Beides folgt aus der grundsätzlichen Tendenz alles Seienden, die Möglichkeiten seiner Realisierung zu steigern. Da kommt alle Richtung her.

(68c) Was heisst: „Möglichkeiten seiner Realisierung steigern“?

(68d) Für den Fall klassischer thermodynamischer Systeme ist die Sache weidlich bekannt: Die Moleküle eines Gases zum Beispiel werden sich in einem Behälter nicht auf eine Seite drängen; diese Verteilung böte ihnen weit weniger Möglichkeiten der Anordnung, als wenn sie das Behältnis ungefähr gleichverteilt erfüllten. Es bestehen, mit anderen Worten, mehr Möglichkeiten, den Zustand der Gleichverteilung, als den des auf-die-Seite-drängens zu realisieren.

(68e) Obiges Beispiel findet sich in jedem Lehrbuch der Thermodynamik. Das Konzept indes ist verallgemeinerbar. Jede spontane Bewegung – wir wollen einmal annehmen, dass sich das Universum aus sich selbst bewegt und keines äusseren Bewegers bedarf (den vom Universum zu trennen sowieso recht unplausibel schiene) – jede spontane Bewegung also erfolgt in Richtung sich erweiternder Möglichkeiten. Wenn wir dabei den Satz der beschreibenden Parameter konstant lassen – wie im Fall der klassischen thermodynamischen Systeme – können wir diese Richtung mit dem Konzept der Entropie beschreiben. Wenn hingegen die Möglichkeiten steigen, weil sich die A n z a h l der beschreibenden P a r a m e t e r   erhöht, können wir diese Richtung mit dem Konzept der Freiheit beschreiben. Deshalb ist üblich, die Anzahl der unabhängigen Parameter eines Systems „Freiheitsgrade“ zu heissen.

(68f) Leider finden wir uns wiederum genötigt, diejenigen Fragen zu übergehen, die nach den Mechanismen sich erkundigen, durch welche neue Parameter notwendig werden. Die Mechanismen also, durch die Freiheit entsteht. Wir mussten diese Ignoranz bereits bei Behandlung der Frage aufbieten, wieso die menschliche, im Gegensatz zur tierischen Arbeit sich ändert. Es ist die selbe Frage, nur in ihrer verallgemeinerten Form. Wie entsteht das katogerial Neue, wie kann sich die Anzahl der Freiheitsgrade erhöhen?

(68g) Engels hat sich sehr um eine kanonische Beantwortung dieser Frage bemüht. Ohne das genauer auszuführen, versetze ich hiergegen, dass es keine solche kanonische Antwort gibt. Jede neue Ebene der Komplexität findet ihren speziellen Flaschenhals, durch den, sobald er einmal gefunden ist, das Seiende sich ergiessen kann (und, wie wir nun wissen, auch ergiessen wird, wofern sich die Möglichkeiten seiner Realisierung dadurch erhöhen). Art und Lage dieses Flaschenhalses jedoch sind jeweils neu und anders. In der Tat widerspräche es unser Intuition von Freiheit, wenn sie nach einem einheitlichen Mechanismus/Prinzip sich ins Werk setzte. Freiheit steht vielmehr als Prinzip der Erweiterung dieser Prinzipien.

(68h) Es entstehen Stufenfolgen der Komplexizität. Die Hinzunahme neuer Parameter beschreibt die Herausbilung eines neuen Modus der Materie, mit sich in Beziehung zu treten. Jede neu gewonnene Freiheit ist eine andere Freiheit. Genau genommen müssen wir stets angeben, welche Freiheit wir meinen. Im Folgenden wollen wir zur gesellschaftlichen Freiheit zurück kehren.

(69) Anders als unsere Betrachtung zur Herausbildung des Staates, ist der Vergleich von Entropie und Freiheit nur eine Analogiebetrachtung und erhebt keinen Anspruch auf naturhistorische Richtigkeit. Wir wollten lediglich den Aspekt der Freiheit näher betrachten, Richtung, d.i. Irreversibiliät zu erzeugen. Von der Arbeit her, funktionalistisch also besehen, haben wir sogar einen Mechanimus: Es leitet sich das von der Entwicklung der Werkzeuges, von der Diversifizierung der Möglichkeiten ökonomischer Nischen also, her.  Es entsteht ebenfalls, wie wir später sehen werden, eine Hierarchie der Ordnungen.

(69a) Hegel, mit anderen Worten, hatte recht: Sich vergrößernde Freiheit bezeichnet den Richtungspfeil der Geschichte. Hier treffen sich funktionalistische und idealistische Staats- und Geschichtsauffassung. Der Unterschied ist, sie kommen aus entgegengesetzter Richtung. Hegel setzt die Freiheit als Prinzip gesellschaftlicher Bewegung; wir entdecken die Freiheit als etwas von der gesellschaftlichen Bewegung sich herzeugendes.

(69b) Hegel, weil er die qualitative Unterschiedlichkeit verschiedener Freiheiten noch nicht heraus hatte (cf. 68h), dachte innerhalb seines Systems folgerichtig. Denn auch der Funktionalist muss zugeben, dass Freiheit, begriffen als Entstehung neuer qualitativer Möglichkeiten, ein grundlegendes Prinzip ist, das sowohl die Entstehung der Planeten, als auch der Menschen und schliesslich der Gesellschaft zum Gegenstand hat. Aber, wir wissen nun, dass die dabei auftretenden Freiheiten verschieden sind; es treten neue Funktionen auf. Sie alle zu berücksichtigen hiesse jeden Anspruch auf Verständlichkeit fahren zu lassen. Wir konkretisieren die Freiheit, die wir meinen: Wir handeln, wo nicht anders vermerkt, ausschliesslich von der Freiheit, deren grundlegender Mechanismus die Entwicklung des Werkzeuges ist.

(70) Steigen wir zum Allgemeinen auf und fassen zusammen. Es ist nun sehr einfach: Freiheit im Funktionalismus bedeutet, dass die Möglichkeiten, einer Tätigkeit oder einem Ding eine Funktion zuzuordnen, sich mit der Zeit erhöhen. Es bedeutet umgekehrt, dass die Dinge und Tätigkeiten ihre Bedeutungsvielfalt steigern, weil sie in verschiedenen, sich tendenziell vermehrenden Funktionszusammenhängen auftauchen. Neue Dinge und Tätigkeitssorten entstehen und ermöglichen neue Ordnungen.

(71) Und wieder hinab zum Konkreten: Der Staat muss, solange es keine ordnungs-zerstörenden Möglichkeiten des Wechsels zwischen verschiedenen Anordnungen ökonomischer Nischen gibt, eher repressiv sein. Nimmt die Zahl der Nischen zu, gibt es einen Schwellwert, ab welchem der Staat eine Pflicht zur Permissivität hat, weil die Zahl der Möglichkeiten einfach durch die Änderung der Nischen-Anordnungen erhöht werden kann, ohne dass die Gesamtordnung zunächst davon bedroht wäre. Anders gesagt, das Nischen-Netzwerk kann, hinreichende Anzahl und Mannigfaltigkeit der Nischen vorausgesetzt, seine Topologie ändern. Ich datiere den Wechsel der Notwendigkeit eines repressiven zur Notwendigkeit eines permissiven Staates auf die Zeit um 1700. Es ist der Anbruch der Moderne; es ist, wie wir sehen werden, die Zeit, in der Merkantilismus und Warenform entstehen.

(72) Einstweilen beschäftigen wir uns noch mit dem Begriff der Freiheit. Wir haben ihn nämlich erst zur Häfte durch. Es bleibt die philosophische Preisfrage, wie Funktion – als spezifisch biologisches Ursache/Wirkungs-Verhältnis – und Freiheit miteinander zusammenhängen?

(73) Dazu müssen wir den Gegenpol der Freiheit, die Willkür, betrachten.

(73a) Offenbar meint das Wort „Willkür“ herkunftsgeschichtlich den frei erkorenen Willen. Ich habe keine Ahnung, wie dieser reinste Ausdruck von Freiheit sich in sein Bedeutungsgegenteil verkehren konnte. Ich weiss nur, dass der Witz gut ist.

(74) Freiheit, war gesagt, zielt auf die Steigerung von Möglichkeiten; Willkür, folglich, zielt auf deren Verminderung.

(75) Es gibt zwei Möglichkeiten zur Willkür: Zufall und Notwendigkeit. Beide vermindern die Anzahl der Möglichkeiten. Notwendigkeit steht hier für Alternativlosigkeit, Zwang, Determinismus. Determinismus und Freiheit sind schon immer als Gegensatz gehandelt worden. Dass nun der Zufall ebenso eine Kategorie der Willkür ist, ist ebenfalls mühelos einsichtig: Nichts liesse sich planen, wenn der Zufall regierte; mithin gäbe es keine Alternativen, zwischen denen sich abwägen liesse; mithin keine Freiheit.

(76) Wir begreifen nun, dass Funktion ein Ausdruck von Freiheit ist. Weder ein streng determiniertes System, noch ein rein zufälliges, stochastisches, könnte einen Zweck verfolgen, bzw. eine Funktion inne haben. Freiheit vermittelt zwischen Zufall und Notwendigkeit. In spezifisch biologischer Ausprägung tritt uns diese Vermittlung als Zweck (potentielle Möglichkeit) bzw. Funktion (realisierte Möglichkeit) entgegen.

(77) Freiheit vermittelt zwischen Zufall und Notwendigkeit. Der Satz verdiente eigentlich ordentliche Ausleuchtung. Wieder muss ich auf die noch zu entwickelnde Philosophie des Lebens verweisen. Hier nur, dass Zweck und Funktion stets auch von einem antizipierten – gewünschten oder zu meidenden – künftigen Zustand angeleitet werden. Deshalb verbleibt immer etwas Telos in den Lebenswissenschaften. Jedes Lebewesen, da es seine Zwecke hat, entwickelt Strategien, sie zu verfolgen.

(78) Überspitzt gesagt erscheint Freiheit in diesem Zusammenhang als jene Strategie, mit der man jeder Strategie entgehen kann. Egal, wie die Welt beschaffen ist; egal, wie sie sich ändert und was sie dem Leben für Überraschungen bereitet: Das Leben zeugt sich fort. Natürlich gibt es Grenzen für das Leben. Ich sage ja, es handelt sich um eine Überspitzung. Keine aber, die nicht ein wenig Erkenntnis für uns bereit hielte.

(79) Freiheit, spinnen wir das oben gesagte fort, ist nicht die Strategie eines bestimmten Lebewesens, sondern generell die Strategie des Lebens, weder ein determiniertes, noch ein zufälliges Verhalten zu erzeugen. Man findet diese Strategie sowohl auf dem Level der Evolution als auch auf dem des Individuums. Klar, dass Anpassung ein wesentlicher Teil dieser Strategie ist. Ihr sind jedoch auch Auflehnung, Exploration und zufällige, unverursacht erscheinende Handlungen beigemischt.

(80) Wir endigen die zweite Strophe mit einem Refrain. Sehen wir an, was wir haben:

(80a) Handel ist innerartlicher Stoffwechsel.

(80b) Arbeit ist innerartliche Symbiose.

(80c) Drei Merkmale unterscheiden Arbeit von anderen Stoffwechselsorten: Widerzeugung, Wohlverteiltheit, Werkzeug.

(80d) Jede Arbeit schafft ihre ökonomische Nische. Das Netzwerk dieser Nischen bildet eine Ordnung.

(80d) Staat ist die Arbeit, die zum Erhalt der Ordnung aufgewandt wird. Er tritt ins Leben als Ausdruck der Freiheit, die bestehende Ordnung zu verletzen.

(80e) Recht ist Ausdruck dieser Ordnung.

(80f) Zweck und Funktion bezeichnen ein spezifisch biologisches Ursache/Wirkungs-Verhältnis.

(80g) Unsere Beschreibung des Staates geschieht aus dem Blickwinkel seiner Funktion.

(80h) Freiheit ist Ausdruck des allgemeines Bewegungsprinzips alles Seienden, die Möglichkeiten seiner Realisierung zu steigern.

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